Südamerika

Südamerika kreuz und quer

Unterwegs auf Vespa-Rollern

Südamerika bereisen, vier Wochen lang, für viele Menschen ein Traum. Argentinien, Chile, Brasilien, Uruguay, Paraguay – wer denkt da nicht an grandiose Landschaften, an die Anden, die Pampa, den Urwald, an eine exotische Tierwelt, an riesige Rinderherden, an Staub, an feuchte Hitze, aber auch an klirrende Kälte, an imposante Metropolen und an Südamerikanisches Temperament. Südamerika ist ein Kontinent spannungsvoller Wiedersprüche. Die Gedanken stoßen auf Armut, Kriminalität, Wirtschaftskrisen oder Umweltprobleme. Südamerika bereisen ist nach wie vor ein großes Abenteuer, es sei denn, man begibt sich unter die Fittiche der Pauschalreisenanbieter. Aber Pauschalurlaub ist nicht jedermanns Sache und schon gar nicht die von Louis-Dieter, Tobias, Dietmar, Bernhard, Helmut, Joachim, Henning, Norbert und mir.

Eine Reportage über unsere Tour

Wir wollten Südamerika hautnah erleben und erfahren und das im wahrsten Sinne des Wortes: auf zwei Rädern mit Vespa-Rollern. Vier Wochen, den ganzen November 1999, nehmen wir eine Auszeit vom wohlgeordneten Leben in Deutschland, um einzutauchen in die ganz andere Art, Land und Leute kennenzulernen. Am Ende der Reise haben wir insgesamt 6.300 Kilometer durch fünf südamerikanische Staaten mit unseren Rollern zurückgelegt.

Doch das Abenteuer beginnt schon viel früher – zwei Jahre dauern Planung und Vorbereitung. Reiseroute festlegen, Hotelauswahl und –vorbuchung, sich über die nötigen Formalitäten und gesetzlichen Vorschriften in den einzelnen Ländern informieren, alles von Deutschland aus, jedoch mit Hilfe von Peter F., einem in Südamerika lebenden Deutschen, der uns acht Rollerreisenden auch als Tourguide in Südamerika zur Verfügung steht. Dann die sorgfältige Vorbereitung der Fahrzeuge, denn die werden von Deutschland mitgenommen, d. h. auf eine dreieinhalbwöchige Schiffsreise von Hamburg nach Buenos Aires geschickt. Zuvor jedoch müssen sie rund 2.500 Kilometer eingefahren werden und danach durch die Inspektion. Es werden jedoch keine wesentlichen Veränderungen an den Rollern vorgenommen; sie werden im Originalzustand belassen. Anfang Oktober heißt es: Roller und großes Gepäck in den Container, denn der wird abgeholt zur Verschiffung.

1. November 1999 – Ankunft in Buenos Aires. Schon am Tag drauf machen wir die wichtigste Erfahrung ihrer Südamerikareise, als wir unsere Roller aus dem Zoll im Hafen von Buenos Aires holen. „Zeit oder Geld, eines davon braucht man in Südamerika, sonst geht gar nichts!“ sagt Louis-Dieter H., der Initiator dieses Rollerabenteuers. Wir setzen nicht auf Geld und so dauert es beinahe den ganzen Tag, bis wir auf unseren Rollern zurück ins Hotel fahren können.

Am Tag darauf werden dann die ersten argentinischen Kilometer unter die Räder genommen und davon gleich 596 bis zum Etappenziel Rio Cuarto. Von Buenos Aires geht es in westliche Richtung einmal „quer“ durch Argentinien, quer durch die Pampa. Ziel sind die Anden, der 6.959 Meter hohe Aconcagua, der höchste Berg Südamerikas, wo es auch den einzigen asphaltierten Pass für eine Andenüberquerung gibt.

Von Rio Cuarto über das 210 km entfernte Etappenziel San Luis erreichen wir nach 285 Kilometern Mendoza, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Die ersten Ausläufer der Andenkette sind da. Früher waren Oliven das wichtigste Erzeugnis der Region, heute ist es der Wein – rund 90% des argentinischen Weins stammen aus der Region Mendoza / San Juan und in der Weltproduktion steht Argentinien an fünfter Stelle. Dreiviertel des kultivierten Bodens der Provinz Mendoza sind mit Reben bestellt. Ob spanische Mönche die Reben einführten oder sie aus Kernen von Rosinen entstanden, weiß niemand. Der große Aufschwung im Weinbau kam jedoch erst mit den Einwanderungswellen von Spaniern und Italienern Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts. Sie verfügten über Erfahrung im Weinbau und Bewässerungstechnik und fanden ein günstiges Klima mit heißen Tagen und kühlen Nächten vor. Wäre Mendoza auf Regen angewiesen, so sähe es aus wie in der Wüste ringsum mit Niederschlägen von kaum mehr als 100 mm pro Jahr, denn die Regenwolken vom Pazifik bleiben in den Anden hängen. So ist der Himmel fast das ganze Jahr blau, das Schmelzwasser von den Bergen, in Staubecken aufgefangen und weitergeleitet, sowie tausende von Tiefbrunnen decken den Wasserbedarf.

Mendoza ist Erdbebenregion, doch beunruhigen tut das hier niemanden. Die knapp 200.000 Einwohner haben sich daran gewöhnt und Vorsorge getroffen: So sind z.B. die Straßen weitestgehend nicht asphaltiert, sondern mit Betonplatten belegt, die sich bei den immer wiederkehrenden leichten Erschütterungen zueinander verschieben können. Auch zu leben versteht man in Mendoza, Fisch gibt es in Hülle und Fülle, Aus dem Meer und aus den Seen und Gebirgsflüssen, die Steaks sind gewaltig und immer wird der passende Wein dazu gereicht.

Wenn hinter der fruchtbaren Region um Mendoza die Weingärten und Poloplätze zurückbleiben, wird der Boden wieder grau und steinig, das Tal des Rio Mendoza verengt sich, die Straße nach Chile windet sich in der schmalen Schlucht um Felsen und Abgründe. Würde die in den sechziger Jahren stillgelegte Eisenbahn noch fahren, wäre die Fahrt nach Santiago de Chile wohl eine der schönsten Strecken der Welt mit der Aussicht auf den schneebedeckten Aconcagua.

Für uns Rollerfahrer heißt es, sich zu konzentrieren, wir fahren den Paso Bermejo. Kehre um Kehre windet sich die Straße empor, vorbei am Aconcagua wird in 3.500 m Höhe der Passrücken überquert. Vina del Mar, auf chilenischer Seite, heißt das Ziel. Aussichtsreicher und spektakulärer hätte der Tag nicht enden können – über dreißig enge und steile Serpentinen bilden den Ausklang. Aber die Roller beschweren sich nicht, Hitze, Staub und 3.000 Höhenmeter können ihnen auch nach jetzt rund 1.600 Kilometern nichts anhaben.

Nach einem Ruhetag in Vina del Mar und Val Paraiso, wo das chilenische Parlament seinen Sitz hat, geht es zurück nach Argentinien ins 320 Kilometer entfernte Uspallata, 1.752 Meter hoch gelegen in einem wunderschönen weiten Tal. Die Fahrt hat viele Höhepunkte, die zum Genießen einladen, auch wenn die kurvenreiche Strecke höchste Anforderungen an alle Rollerpiloten stellt. Der Blick auf die Giganten der Anden mit Tupungato (6.800 m), Mercedario (6.770 m) und Aconcagua (6.959 m) ist tief beeindruckend und bleibt unvergesslich. Das Wintersportzentrum Los Penitentes in 2.580 bis 3.194 Meter Höhe lädt zu einer Rast ein. Vorbei an Punta del Inca auf 2718 Meter Höhe, einer Naturbrücke, die das Thermalwasser aus den Felsen geformt hat. Von hier aus beginnen die meisten Expeditionen zum Aconcagua. Mit Maultieren ziehen die Bergsteiger in das Basislager Plaza de Mulas, wo auf 4.200 m das höchstgelegene Hotel der Welt errichtet wurde. Da der Aconcagua technisch vergleichsweise einfach zu besteigen ist, finden sich hier im Januar und Februar Hunderte von Bergsteigern aus aller Welt ein.

Tags drauf wird mit der Fahrt durch die Andenausläufer das 240 Kilometer entfernte San Juan erreicht. San Juan ist ähnlich fruchtbar wie die Region Mendoza.
Dann geht es in vier langen Schlängeln von insgesamt knapp 1.900 Kilometern über Cordoba, Parana, Corrientes nach Asuncion in Paraguay. Das Rollerfahren durch die Weite der Landschaft macht ungeheuer viel Spaß, die Straßen sind in akzeptablem Zustand, der Verkehr mäßig.
Der Grenzübergang nach Paraguay ist ein Schauspiel für sich, alles trägt sich so zu, wie man es aus etlichen Filmen kennt – nur – hier ist man live dabei. Staub, Gluthitze, abgewrackte LKW, gefügige Dienerinnen der Liebe, Alkohol, Drogen und natürlich Zöllner mit der unausgesprochenen Forderung auf den Lippen: „Zeit oder Geld“!
Wir entschließen uns wieder für „Zeit“ – nicht zuletzt, um das Schauspiel an der Grenze zu genießen. Anlaß zum Staunen geben immer wieder die Berge von Formularen, die es bei den Grenzübertritten auszufüllen gilt. Formulare, die nie jemand wieder in die Hand nimmt, geschweige denn kontrolliert.

Von Asuncion aus geht unsere Fahrt durch Paraguay ins 380 km entfernte Foz de Iguazu, wo ein anderer Höhepunkt der Südamerikareise wartet: Die Wasserfälle im Nationalpark Iguazu, der 1987 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, im argentinisch-brasilianischen Grenzgebiet mitten im Dschungel. Krasser könnte der Gegensatz zur Gebirgsregion der Anden kaum sein.
Insgesamt 234.000 Hektar, davon 50.000 Hektar auf argentinischem Gebiet, ist der Nationalpark groß. In vielen Erklärungen haben sich beide Regierungen dazu verpflichtet, nicht nur die Wasserfälle, sondern auch die artenreiche Tierwelt des Parks zu erhalten.

Die Wasserfälle bildeten sich vor 120 Mio. Jahren als Folge vulkanischer Aktivitäten. Von vielen werden sie als die schönsten Wasserfälle der Welt bezeichnet: Der auf brasilianischer Seite viele hundert Meter breite Fluß beschreibt eine weit geschwungene Rechtskurve von mehr als 90 Grad und wie ein Riss in der Erde ragt der Teufelsschlund mitten in diese Kurve hinein. Die Fälle teilen sich auf einer Länge von drei Kilometern in fast dreihundert einzelne Katarakte. Sie wechseln ihre Farbe je nach Jahreszeit: im Sommer bei niedrigem Wasserstand sind sie blau, zu Beginn der Regenzeit gelb und wenn wochenlang Regen fällt schlammig braun.
Auch unterscheiden sich das brasilianische und das argentinische Gesicht der Wasserfälle. In Brasilien lässt sich die Gesamtheit der tosenden, unnahbaren Fälle überblicken und somit ist der Anblick imposant und majestätisch. Hunderte von kleinen Inseln oder großen Felsbrocken teilen die Fälle, das Wasser schäumt auf und spritzt, donnert und tost, bevor es sich letztlich unten im Fluß wieder vereint und beruhigt. Manche Fälle sind breit, andere eng zusammengepresst, mal stürzt das Wasser senkrecht, mal schäumt es über eine Rutsche, viele Fälle haben Namen. Palmen sprießen in hellem Grün, Moose und Farne gedeihen bestens bei der allgegenwärtigen Feuchtigkeit, die an vielen Stellen Regenbögen zeichnet.

Völlig anders das Bild auf der argentinischen Seite. Hier sind die Fälle ruhiger, wirken bei weitem nicht so dramatisch. Kilometerlange Stege führen direkt unterhalb der Fälle entlang, Brücken verbinden Inseln miteinander. Die Menge der Besucher verläuft sich, dem Einzelnen bleibt genügend Raum zur stillen Betrachtung. In Brasilien ist es weitaus schwieriger, in Ruhe diese urwüchsigen Kräfte zu betrachten. Besonders schön sind die Fälle am Abend, wenn die Besucherströme verebben, die Fälle verlieren im weichen Licht der Abendsonne an Härte.
Zwei Tage bleiben wir im Nationalpark Iguazu, natürlich nicht ohne Itapu, das größte Wasserkraftwerk der Welt, besichtigt zu haben.

Dann geht es südwärts Richtung Montevideo in Uruguay, über die Etappenorte Posadas (Argentinien), Uruguaiana (Brasilien), Paysandu (Uruguay) nach Montevideo, insgesamt knapp 1.500 Kilometer.
Montevideo gehört in die Reihe lateinamerikanischer Hafenstädte mit Palmen und Sandstränden, die früher die Seeleute aus aller Welt ins Schwärmen brachten. Montevideo wird oft in einer Reihe mit Havanna, Santo Domingo oder Rio de Janeiro genannt. Unsere Erwartungen sind also entsprechend hoch: Hübsch und gut erhalten die Vorstädte, von denen man direkt auf den Rio de la Plata schaut, dessen riesiger Mündungstrichter ins Meer übergeht. Weniger anziehend ist das Zentrum Montevideos, wo schmucklose Modernität Einzug gehalten hat, die schon nach wenigen Jahren verkommen aussieht. Auch die koloniale Altstadt scheint unaufhaltsam dem Verfall ausgesetzt zu sein. Oft sind Fenster und Türen mit Brettern vernagelt, Graffiti verdrängt den Stuck. Die Vielfalt des südamerikanischen Stadtlebens spiegelt sich auch in den Straßen von Montevideo wider: hell erleuchtete Computerläden neben verstaubten Buchhandlungen, neue Ladenpassagen neben Schreinerwerkstätten, exklusive Modeboutiquen neben Gemischtwarenläden. Der Lebens- rhytmus der Stadt scheint allerdings auf dem Stand der fünfziger Jahre stehen geblieben zu sein – es fehlt die übliche Hektik südamerikanischer Metropolen. Mit 1,5 Mio. Einwohner platzt die Stadt nicht aus allen Nähten, die wirtschaftliche Entwicklung scheint nur stockend voranzugehen, der kleinstädtische Charakter dominiert.

Ganz anders Buenos Aires: Eine Stadt, die erst in den frühen Morgenstunden zur Ruhe kommt. Tagsüber wälzen sich lärmende und stinkende Blechkaravanen durch das Straßenlabyrinth des Zentrums, in der Nacht spielt sich das wahre Leben ab – Tausende flanieren über die Vergnügungsstraßen der Metropole. Cafés, Kinos und Restaurants sind gefüllt. Das pulsierende Leben dieser Metropole, von dem eine eigenartige Faszination ausgeht, schlägt die Besucher schnell in seinen Bann. 15 Mio. Einwohner zählt Argentiniens Hauptstadt, ein Schmelztiegel für europäische Einwanderer vor allem aus Spanien und Italien, aber auch aus Frankreich, England und Deutschland. Nach Mexiko-City ist sie die zweitgrößte Stadt Südamerikas.

Widersprüchlich in seiner Architektur: Europäische Fassaden, imposante Hochhauskulissen aus Glas und Stahl, großbürgerliche Prachtstraßen, Caféhäuser im Wiener Stil. La Boca, das Hafenviertel mit seinem Tango-Flair. Nicht wenige nennen Buenos Aires auch das „Paris Lateinamerikas“.
Zwei Tage haben wir nun noch Zeit, um zum Abschluß unserer Reise noch einmal ganz tief einzutauchen in diesen Schmelztiegel am Rio de la Plata, nachdem wir zuvor unsere Vespas und das größere Gepäck für die Rückverschiffung nach Hamburg wieder in einem Container verladen haben. Auch diesmal fällt die Entscheidung für „Zeit“. So ist der Tag vorbei, als die letzten Zollformalitäten erledigt sind.

ENDE